Aktive 3D-Flüssigkeiten durch mathematisches Supercomputing verstehen

Neues theoretisches Modell sagt spontane Strömungsmuster von aktiven Flüssigkeiten dreidimensional voraus.

Darstellung der Falteninstabilität aktiver Mikrotubuli (farbig mit Verzerrung der Ausrichtung), wie sie das dreidimensionale Modell vorhersagt. © Singh et al. Physical review Research (2023) / MPI-CBG

Die Physik aktiver Materie ist eine grundlegende Theorie zum Verständnis biologischer Phänomene auf verschiedenen Ebenen, von der Zellbewegung bis zur Gewebemorphogenese und dem Schwarmverhalten von Tieren. Eine solche faszinierende Klasse der aktiven Materie sind aktive Flüssigkeiten. Dabei handelt es sich um dicht gepackte, weiche Substanzen, deren Bestandteile unabhängig voneinander fließen können und Energie auf mikroskopischer Ebene abbauen, um gerichtete Bewegungen auszuführen. Obwohl dies ein allgemeines Konzept darstellt, das sich praktisch auf die gesamte Biologie anwenden lässt, ist es aufgrund der hohen mathematischen und rechnerischen Komplexität äußerst schwierig, aktive Flüssigkeiten in drei Dimensionen zu verstehen. Aufgrund der technischen Hindernisse und des Mangels an wissenschaftlicher Supercomputer-Software für 3D-Untersuchungen wurden im letzten Jahrzehnt nur zweidimensionale Modelle aktiver Flüssigkeiten untersucht.

In einer aktuellen Studie untersucht die Forschungsgruppe von Ivo Sbalzarini, TU Dresden-Professor im Zentrum für Systembiologie Dresden (CSBD), Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) und Dekan der Fakultät Informatik der TU Dresden, zusammen mit Frank Jülicher, Direktor am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme (MPIPKS), wie sich eine aktive Flüssigkeit in einer dreidimensionalen Umgebung verhält. In aktuellen Experimenten, die der dreidimensionalen Welt, in der wir leben, direkt entsprechen, wurde beobachtet, dass Mikrotubuli und Kinesin-Motorprotein-Gemische von sich aus in verschiedene Richtungen fließen können, aber es fehlte ein umfassendes theoretisches Modell, das diese Beobachtungen erklärt und zeigt, wie man sie kontrollieren kann. Abhinav Singh, der Erstautor der Studie, erklärt: „Unsere wichtigste Entdeckung ist, dass Randbedingungen, die in idealen physikalischen Modellen häufig übersehen werden, entscheidend für die Entstehung von Instabilitäten in aktiver Materie sind. Einfach ausgedrückt bedeutet dies, dass sich das aktive Material an der Grenze oder Oberfläche, an der es anliegt, festhalten und mit ihr in Wechselwirkung treten kann und sich dann auf zwei Arten bewegt: in Richtung der Ausrichtung (in-plane) oder senkrecht zur Ausrichtung der Polymere (out-of-plane). Ob es von seinen internen Motoren gezogen oder geschoben wird, und wie sich die Moleküle an den Rändern orientieren, bestimmt die Bewegung. Interessanterweise entdeckten wir einen einzigartigen 3D-„Rippling“- oder „Falten“-Effekt, der direkt mit dem beobachteten rätselhaften Verhalten von Mikrotubuli übereinstimmt, wenn sie unter einer Streckkraft stehen, die von Motoren, den Kinesinen, erzeugt wird. Diese Ergebnisse wurden durch strenge mathematische Analysen und beispiellose Supercomputer-Codes mit neuartigen numerischen Techniken bestätigt, was einen bedeutenden Sprung in unserem Verständnis aktiver biologischer Prozesse darstellt.“

„Diese Ergebnisse erweitern unser Verständnis des Verhaltens aktiver Materie und bringen uns einen Schritt näher an die Entschlüsselung der wunderbaren Komplexität von Morphogenese“, fasst Ivo Sbalzarini, der die Studie leitete, zusammen. „Unsere Erkenntnisse und Softwarebeiträge in OpenFPM werden für Forschende der Physik, Biologie und Materialwissenschaften, die sich mit dem Verhalten aktiver Flüssigkeiten aus lebenden Materialien befassen, von großem Nutzen sein. Dieses neue Verständnis kann die Manipulation und Kontrolle aktiver Flüssigkeiten verbessern und den Weg für eine Reihe von Anwendungen ebnen, von mikrofluidischen Geräten bis hin zu Medikamentenverabreichungssystemen und neuartigen Materialdesigns. Es sind jedoch weitere Forschungsarbeiten erforderlich, um unsere Erkenntnisse in verschiedenen realen Szenarien zu validieren.“

Originalpublikation

Abhinav Singh, Quentin Vagne, Frank Jülicher, and Ivo F. Sbalzarini: Spontaneous flow instabilities of active polar fluids in three dimensions. Phys. Rev. Research 5, L022061 – Published 22 June 2023, DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevResearch.5.L022061