Entgleisete molekulare Frachtzüge in Zell-Antennen kehren um

Forschende des Human Technopole in Milan, Italien und des Max-Planck-Instituts für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden, Deutschland zeigen, wie molekulare Frachtzüge in zellulären Antennen die Richtung wechseln.

Kryo-Elektronentomographie eines intraflagellaren Frachtzuges, der die Mikrotubuli-Schiene an der Zilienspitze verlässt. © Nievergelt et al. Current Biology (2022) / MPI-CBG

Zilien sind antennenartige Strukturen, die aus der Oberfläche von eukaryontischen Zellen herausragen. Falsch zusammengesetzte Zilien können beim Menschen zahlreiche Krankheiten verursachen, von Unfruchtbarkeit bis hin zu Lungenfehlfunktionen. Der Aufbau und die Erhaltung von Zilien wird durch eine Transportmaschine, den Intraflagellar Transport (IFT), koordiniert. Diese bewegt sich auf einem zweigleisigen System in zug-ähnlichen Strukturen entlang des mikrotubulären Skeletts der Zilien. Die IFT-Züge fahren von der Zelle zur Spitze der Zilie, um Frachten zu transportieren, die für den Aufbau des Ziliums erforderlich sind. Anschließend drehen sie um und kehren mit hoher Geschwindigkeit in die Zelle zurück. Aus diesem Grund wurde lange Zeit angenommen, dass eine spezielle molekulare Maschinerie an der Zilienspitze für das Wenden der Züge notwendig ist. Die Forschungsgruppe von Gaia Pigino, jetzt am Human Technopole Structural Biology Research Centre in Mailand und früher am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) tätig, hat nun gezeigt, dass die Fähigkeit zum Wenden eine intrinsische Eigenschaft der IFT-Züge ist, die überall im Zilium stattfinden kann, ohne dass eine spezielle Maschinerie in der Spitze erforderlich ist. Diese Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Current Biology veröffentlicht.

Zellen müssen verschiedene Arten von Signalen aus der Umgebung wahrnehmen können, beispielsweise chemische und mechanische Signale, um richtig zu funktionieren. Die meisten eukaryontischen Zellen erledigen diese Aufgaben über ein spezialisiertes haarähnliches Organell, das Zilium, das als eine Art Antenne aus dem Zellkörper herausragt. Wir können durch die Zilien des Geruchssinns in unserer Nase riechen, wir sehen durch die Zilien der Fotorezeptoren in unseren Augen und wir hören dank der Kinozilien in unseren Ohren. Andere Zilien bewegen sich in einer schlagenden Weise, die uns zum Beispiel das Atmen ermöglicht, indem sie die Lungen sauber halten, oder sie ermöglichen uns die Fortpflanzung, indem sie Spermien vorwärtstreiben. Sogar das richtige Denken ermöglichen sie uns, indem sie zum Flüssigkeitsfluss im Gehirn beitragen. Es überrascht nicht, dass Defekte im Aufbau und in der Funktion dieser winzigen Organellen zu schweren Krankheiten führen können, die unter dem Begriff Ziliopathien zusammengefasst werden. Daher ist die einwandfreie Funktion der Zilien von grundlegender Bedeutung für die menschliche Gesundheit.

Eine Methode zur Beeinflussung von IFT-Zügen
Ein in zwei Richtungen verlaufendes molekulares Transportsystem, das als intraflagellarer Transport (IFT) bezeichnet wird, ist für den ordnungsgemäßen Aufbau und die Funktion der Zilien erforderlich. IFT-Züge werden von Kinesin-II-Motorproteinen von der Zelle zur Zilienspitze (anterograde Richtung) befördert, wo sie die für den Aufbau des Ziliums benötigte Ladung abladen, bevor sie umkehren und sich, angetrieben von Dynein-Motorproteinen, zurück zur Zelle bewegen (retrograde Richtung). Der Mechanismus, der den Ab- und Wiederaufbau der IFT-Züge koordiniert und ihnen das Umkehren zu ermöglichen, ist unbekannt. Es wird allgemein angenommen, dass große Proteinkomplexe an der Zilienspitze für diesen Umbau der IFT-Züge verantwortlich sind. Adrian Nievergelt, Postdoktorand in der Pigino-Gruppe am MPI-CBG, hat nun zusammen mit Ludek Stepaneck, einem ehemaligen Postdoktoranden im selben Team, eine Methode entwickelt mit der man IFT-Züge in den Zilien der Grünalge Chlamydomonas an definierten Positionen entlang des Ziliums mechanisch beeinflussen und anhalten kann. Die Forschenden beobachteten das Verhalten dieser Züge mit einem Fluoreszenzmikroskop und konnten zeigen, dass diese Züge auch in einiger Entfernung von der Zilienspitze ihre Richtung mühelos ändern können.

Die Forschenden stellten außerdem fest, dass die IFT-Züge, die sich an der Spitze umbauen und umdrehen, dies etwas schneller tun als wenn sie an einer anderen Stelle künstlich zum Stillstand gebracht werden. Daraus ergab sich die Frage: Gibt es einen mechanistischen Unterschied zwischen den beiden Situationen? Auf der Suche nach einer Antwort verwendete die Gruppe die Kryo-Elektronenmikroskopie, eine mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Technologie, die hochenergetische Elektronen verwendet, um stark vergrößerte Bilder biologischer Strukturen aufzunehmen und dreidimensionale tomographische Darstellungen mit atomarer Auflösung zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktionen der Zilien sind jedoch verrauscht und für das menschliche Auge schwer zu interpretieren. Tim-Oliver Buchholz, ein ehemaliges Mitglied der Gruppe von Florian Jug, jetzt am Human Technopole Computational Biology Research Centre und ehemals am MPI-CBG und Zentrum für Systembiologie Dresden (CSBD), wandte seine Methode cryo-CARE an, ein speziell trainiertes neuronales Netzwerk, um das Rauschen aus den kryo-tomographischen Daten zu entfernen. In einer der Rekonstruktionen beobachteten die Wissenschaftler ein seltenes, faszinierendes Ereignis, bei dem ein IFT-Zug seine Schiene an der Zilienspitze übertrat. Adrian Nievergelt erklärt: „Sobald das Rauschen aus den tomographischen Daten entfernt war, konnten wir leicht erkennen, wie der sehr gleichmäßig strukturierte IFT-Zug auseinanderfällt und sich auflöst, direkt nachdem er das Ende des Mikrotubulus, auf dem er lief, erreicht hatte. Diese Beobachtung war sehr aufschlussreich für uns.“

„Es ist auffällig, dass wir nie einen IFT-Zug beobachten können, der zweimal die Richtung wechselt. Eine Erklärung dafür ist, dass in Chlamydomonas die Kinesin-Motoren bei retrograden Zügen nicht mehr vorhanden sind“, erklärt Gaia Pigino und fasst zusammen: „Diese Entdeckung ist ein wichtiger Schritt zur Lösung der molekularen Mechanismen, wie sich IFT-Züge im Zilium umbauen.“

Artikel auf Italienisch auf der Webseite von Human Technopole.

Originalpublikation

Adrian Pascal Nievergelt, Ilia Zykov, Dennis Diener, Aditya Chhatre, Tim-Oliver Buchholz, Markus Delling, StefanDiez, FlorianJug, LuděkŠtěpánek, GaiaPigino: Conversion of anterograde into retrograde trains is an intrinsic property of intraflagellar transport. Current Biology, 3. August 2022, doi: 10.1016/j.cub.2022.07.033